Es ist nicht immer leicht Dinge, die störend sind, auszuhalten. Oder Unterschiede auszuhalten, die irritieren oder Menschen, die eine andere Meinung haben. Aber es lohnt sich! Ich habe meine besten Ideen immer dann gehabt, wenn ich mich mit etwas konfrontiert sah, dass mich emotional angestrengt und zum Widerspruch getrieben hat. Halte das bitte mal aus, war mein Booster für Kreativität des „das geht anders und besser“.
Und auch als Organisationsberater, Executive Coach und Change Agent für Unternehmen im Wandel weiß ich um die Bedeutung der Unterschiede für erfolgreiche Transformation. Gerade wenn die Zeiten unsicher sind und „das Neue“ noch nicht konkret genug erscheint, ist es gut Dinge auszuhalten. Es entsteht Offenheit für Ideen, das Undenkbare und eine sinnvolle Alternative zu den sonst üblichen eindeutigen Lösungen, group think und vorschnellem comittment.
Damit das Aushalten gelingt und Unterschiede produktiv werden können, braucht es eine klare Haltung von Menschen, die in Organisationen Verantwortung tragen. Diese Haltung wird in Organisationen, in Gesellschaft und Politik ergänzt durch Normen, also Prinzipien der Kooperation, die ein sinnvolles Miteinander gestalten. Ohne Normen ist eine produktive Problemlösung – auch und gerade in stürmischen Zeiten- nicht organisierbar. Deshalb habe ich als Hanseat und Demokrat sofort mein Sponsoring zugesagt, als mir Oliver Wurm das Konzept des Grundgesetzes und der Hamburgischen Verfassung in einer ansprechend und modern gestalteten Magazinform präsentiert hat.
Wir brauchen ein erneuertes Bewusstsein der Haltung und der Normen, damit wir in diesen dynamischen Zeiten nicht den Kurs verlieren! Es ist gut Rosa Luxemburg und ihr Statement über die Freiheit des anders Denkenden oder auch den Voltaire zugeschrieben Satz \“Ich hasse, was du sagst, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass du es sagen darfst\“ zu zitieren, aber noch besser ist es, so zu leben und zu handeln:
Halte das bitte mal aus und lebe offene und freiheitliche Normen. Halte die Dinge in der Schwebe und die Ungewissheit aus. Frage lieber nach, wenn Du irritiert oder emotional \“angefasst\“ bist und reagiere bitte nicht gleich reflexhaft und ablehnend.
Beim Navigieren durch die Ungewissheit ist es normal, dass sehr unterschiedliche Vorschläge auf den Tisch kommen. Das bedeutet gerade am Anfang der Lösungsfindung auch, dass Unsinn auf dem Tisch liegt, den wir bitte mal aushalten. Denn wir wissen doch nicht gleich wie es besser ginge oder was die richtige Lösung wäre.
Und deshalb sehe ich mit Sorge, wenn
- Bernd Lucke und Marie-Louise Vollbrecht ihre Vorlesungen an einer Universität nicht halten können, gerade weil ich finde, dass beide auch Unsinn verbreiten. Aber wenn beide nicht sprechen können, dann kann ich ihrem Unsinn auch nicht widersprechen. Ich halte die Meinungen von Lucke (dessen wissenschaftlicher Postion zur Geldpolitik ich auch als Volkswirt widerspreche) und Vollbrecht für einen Rückschritt und keinen Lösungsbeitrag. Aber es gehört zum Weg der besseren Lösung, dass ich deren Meinung aushalte und mich daran abarbeitend eine Alternative präsentiere.
- einige die Entscheidung eines Veranstalters, das Lied Leyla nicht aufzuführen als „Verbot“ bezeichnen. Welche Musik auf meiner Veranstaltung gespielt wird, ist meine Entscheidung – so ist unsere gesellschaftliche Norm! Was passiert, ist das diese Entscheidung zum Anlass genommen wird, einen persönlichen Wertekompass („Ich werde dieses Lied aber spielen“) als für alle bindend zu erklären und dann von einem Verbot gefaselt wird. Auch diesen Unsinn kann man aushalten.
- gefordert wird die documenta zu beenden und Rücktritte erwartet werden. Ohne jeden Zweifel gab und gibt es auf der documenta 15 antisemitische Beiträge. Ich mag das nicht und schäme mich dafür, dass diese Beiträge erst „entdeckt“ werden mussten und von den Verantwortlichen nicht von Beginn an sinnvoll thematisiert und behandelt wurden. Die Thematisierung geschieht aber jetzt, auch und gerade mit Hinweis auf unsere gesellschaftlichen Normen im Thema Antisemitismus. Deshalb möchte ich, dass wir diese irrtierende Kunst aushalten und die provozierte Diskussion (wenn auch zu spät) führen.
Ich habe bewusst drei gesellschaftliche Beispiele gewählt und keine aus meiner Erfahrung als Führungskraft, Coach oder Organisationsberater herangezogen. Denn erstens sind diese Unternehmens Informationen natürlich vertraulich und zweitens gelingt jeder und jedem, die und der Teil einer Organisation ist, der Transfer auf die Ebene der Organisation bestimmt.
Aus guten Gründen habe ich also diese drei Beispiele gewählt, aber nicht um in diesem Beitrag die sog. cancel culture zu behandeln, sondern um zu zeigen:
Wir brauchen mehr seemännische Gelassenheit und sollten offen, robust und neugierig bleiben. Misstrauisch gegen Schließung, eindeutige Pläne und glasklare Wahrheiten bleiben -egal ob auf gesellschaftlicher Ebene oder wenn wir Organisationen erfolgreicher und die Mitarbeit darin sinnvoller machen wollen.
Lieber Herr Hinz, ich teile Ihre in diesem Blog zum Ausdruck kommende Werthaltung! Eine freiheitliche Gesellschaft ist immer auch eine pluralistische Gesellschaft – und zur Freiheit muss daher auch das „Aushaltenkönnen“ gehören !