…und wieder ziehen sie über die -diesmal digitalen- Marktplätze: die Prediger mit ihrer altbekannten Botschaft: Wer sich nicht sofort wohl verhält, wird in die Hölle kommen! Zugegeben, die Formulierungen klingen moderner:
Wer nicht digitalisiert, ist weg vom Fenster,
Agil sein wird zum Muss für erfolgreiche Unternehmen
oder
Agiler, kollaborativer, digitaler, innovativer: So müssen Unternehmen sein, wenn sie die Zukunft erreichen wollen
Die 180 Grad Wende muss also kommen, sonst…. Was soll dieses Angst machen? Die allermeisten Unternehmen, die ich kenne, sind erfolgreich, gut im Markt und nicht kurz vor der Hölle. Was (oder wem) nützen die ganzen Kreuzzüge, die gerade geritten werden:
Einwandfreie Selbstorganisation statt ätzender Hierarchie
Wer heute für ein hierarchisch strukturiertes Unternehmen eintritt, muss aufpassen, nicht mit faulen Eiern beworfen zu werden. Die Preisträger des #newwork Award 2017 werden dagegen überall bejubelt: sie scheint zu einen, dass sie frei, spontan, ohne Führungskräfte und Hierarchie produktiv sind.
Aus organisationstheoretischer Sicht zeigt dies zunächst nur eines: Unternehmen haben unterschiedliche Wege, Güter und Dienste marktreif und ökonomisch erfolgreich darzubieten.
Der Gegensatz von Selbstorganisation und Hierarchie ist ein rhetorischer Popanz, denn es gibt ihn logisch nicht. Jede Form der Steuerung ist selbstorganisiert: das Prinzip der Hierarchie ist dabei ein (weit verbreitetes) Phänomen, das sich in Unternehmen, die Steuerungsfragen zu organisieren haben, herausbildet. Aber es ist bei weitem nicht das einzige, und das ist gut so!
Natürlich: Autokratie ist Mist und die Zeit der einsamen Helden an der Spitze scheint wohl auch vorbei, aber deswegen ist nicht gleich jedes hierarchische Organigramm einer soziokratischen Kreisorganisation unterlegen…
moderne Agilität statt unmodernem Management
Plötzlich müssen alle agile Organisationen werden: schneller, flexibler, näher am Kunden etc.. Da wird \“Agilität\“ dann schnell zu einem KVP Prozess in neuen Kleidern und in der ganzen Firma \“ausgerollt\“. Das ist Unsinn!
Gutes Management hat weiterhin seine Bedeutung und Berechtigung bei all den Dingen, die berechenbar, skalierbar und damit gut steuerbar sind.
Allerdings nimmt die Anzahl der Dinge, die \“manageable\“ sind, ab. Die Dinge, die dynamisch-rückgekoppelt und damit ungewiss und nicht mehr gut steuerbar sind, nimmt zu. Peter Kruse weist aber zurecht darauf hin: \“Bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen macht es Sinn, zwischen Funktionsoptimierung und Musterwechsel zu unterscheiden.\“
Die Kunst der Führung liegt eben darin, wirksam zu unterscheiden: hier die achtsame Steuerung von Prozessen und dort eher Segeln auf Sicht.
saubere Augenhöhe statt unsauberer Macht
Die Idee, das Führung eine machtlose, interessenfreie Sache wäre, finde ich naiv. Wirksame Führung bracht die helle Seite der Macht, die dunkle Seite der Macht dagegen zu gebrauchen, ist eine Sauerei!
Ich habe den ersten Augenhöhe Film unterstützt, lange bevor der Begriff „Augenhöhe“ en vogue wurde. Ich fand es klasse, dass Alternativen gezeigt wurden, um damit das Repertoire von Organisationen und den Menschen, die dort Verantwortung tragen, zu erweitern. Aber ein moralisch überlegenes Rezept habe ich darin nie gesehen. Deshalb sehe ich die Vermarktungsmaschine, die sich jetzt entwickelt hat, mit Sorge. Es gibt einen Lizenzhandel und Berater, die eine einjährige Ausbildung zum „AUGENHÖHEwegbegleiter“ anbieten (auch zertifiziert?). Das war wohl zu erwarten, enttäuscht mich aber trotzdem…
Mehr seemännische Gelassenheit und weniger Kreuzzüge
Organisationen hinterfragen sich mehr oder weniger häufig, gehen mit Veränderung mehr oder weniger wirksam um und sind mehr oder weniger erfolgreich am Markt. Dazu bedienen sie sich Routinen so lange wie sie sich bewähren oder organisieren (sich) neu, wenn bisher unbekannte Anforderungen zu bewältigen sind. Auf dieses bewährte Repertoire können wir auch jetzt zurückgreifen, wenn die #younameit Anforderungen mit besonderer Deutlichkeit, Geschwindigkeit und Masse kommen.
Die aktuellen Herausforderungen sind größer als die der letzten Jahrzehnte, vielleicht auch disruptiv, aber ein Tsunami oder das Tor zur Hölle sind sie nicht.
Prüfen sie bitte deshalb genau, wenn sie dem nächsten # Evangelisten begegnen, ob die Landkarte mit der er die Herausforderungen der Zeit vermisst, auch zu ihrer Landschaft passt. Es könnte ja sein, dass Selbstorganisation, Agilität und Augenhöhe schon Platz gefunden haben in ihrer hierarchischen, machtbasierten Manager- Organisation….
Ein Beitrag zur Blogparade VIELFALT – PM Camp Berlin V
P.S.: …und natürlich könnte dieses „Beratergequatsche“ auch einem alten Change Management Prinzip folgen, über das ich früher hier schon berichtet habe: Veränderungen brauchen Angst. Übrigens immer noch der am meisten „angeklickte“ Lotsenblog Beitrag…
Möchten Sie auch eine Veränderung angehen, die nicht auf # Kreuzzügen und Angst basiert? Dann melden Sie sich kurz unter lotse@www.hinz-wirkt.de für ein erstes, unverbindliches Gespräch…
Genau das gefällt mir auch nicht, Olaf. Danke für Deinen klaren Beitrag, mit dem Du Dir vermutlich nicht nur Freunde machst.
Ich mag es nicht mehr lesen und hören:
„Wer nicht digitalisiert, ist weg vom Fenster“ oder
„Agil sein wird zum Muss für erfolgreiche Unternehmen“
Zu häufig werden diese „Lösungen“ als einziger gangbarer Weg gezeichnet. Aktuelle Organisationsstrukturen und Herangehensweisen werden abgewertet. Obwohl diese verantwortlich für den aktuellen Bestand und Erfolg der Organisation sind.
Es wird leider auch oft so getan, als ob es dann gar keine Probleme mehr gibt. Es scheint nur noch die Sonne. Für alle Beteiligten. Man muss nur diesen Weg gehen.
Das ist natürlich Quatsch. Es gibt keine perfekten und fehlerlose Organisationen. Jede Organisation hat Zielkonflikte.
Organisationen und die Menschen in der Organisation sind einzigartig und daher braucht es auch individuelle Ansätze in der Beratung – statt pauschale „Erfolgskonzepte“, die es nur zu kopieren braucht, damit alles „gut“ ist. Erprobungen sind aus meiner Sicht eine gute Wahl, damit Organisationen eigene Erfahrungen mit „neuen“ Konzepten machen können.
Ich hatte die erste Augenhöhe Initiative auch unterstützt und finde die derzeitige Entwicklung auch nicht gut.
Dazu habe ich noch was zu der Aussage, dass alle „agil“ in Organisationen arbeiten sollen und angeblich wollen und auch können:
„Auch Georg Schreyögg hat in seinem Buch „Organisation“ einen kritischen Beitrag zu motivationsorientieren Organisationsmodellen (also agile Organisationen, Reinventing Organizations, etc.) verfasst. Ich kenne die 5. Auflage. Aktuell ist die 6. Auflage. Sehr zu empfehlen.
Dazu habe ich zu jedem Punkt Fragen für die eigene berufliche Situation und/oder „Beraterbrille“ ergänzt.
1.) Falsche Generalisierung: Motivationsorientierte Organisationsmodelle gehen von generellen Bedürfnislagen aus. Alle werden über einen Kamm geschert, dass ein idealisierendes Menschenbild einfordert. Es sei keineswegs richtig davon auszugehen, dass alle Menschen danach strebten, in der Arbeit höherrangige Bedürfnisse im Sinne Maslows zu befriedigen. Es gibt auch Menschen, die verlangen nach autoritären Strukturen, andere mögen kooperative Modelle, andere mögen Routine und andere mögen einen angereicherten Arbeitsplatz.
Gibt es bei moderner und neuer Form von Führung und Zusammenarbeit nur gleiche Mitarbeiter, die alle gerne anpacken, oder gibt es Möglichkeiten unterschiedlich zu arbeiten (kooperativ, autoritäre Strukturen, Routine, …)? Wie wird das thematisiert? Mit welchen Auswirkungen?
2.) Inkompatibilität von Individual und Organisationszielen: Es stellt sich viel häufiger als angenommen die Frage, ob die Organisationsziele oder die Mitarbeiterziele verwirklicht werden sollen oder können. Die Mittel zur Zielerreichung sowohl der einen als auch der anderen Seite sind grundsätzlich knapp. Die motivationsorientierten Organisationsmodelle gehen von den optimistischen Annahmen aus, dass sowohl der Einzelne als auch die Organisation gemeinsam und gleichermaßen profitieren. Eher ist im Arbeitsalltag ein Kampf um knappe Mittel an der Tagesordnung.
Inwieweit ist es möglich daran zu denken, dass Organisations- und Mitarbeiterziele nicht immer gemeinsam verwirklicht werden können? Was passiert, wenn es wirtschaftliche Probleme gibt, oder mehr Automatisierung in der Branche Sinn macht? Wie wird das in die Kommunikation gebracht? Mit welchen Auswirkungen?
3.) Manager sind nicht freiwillig bereit, Teile ihrer Macht aufzugeben: Die vorgesehene breite Partizipation an Entscheidungsprozessen wird von den etablierten Machthabern nicht zugestanden. Eher unter einem extremen Zwang.
Wie verhalten sich Manager und Mitarbeiter in Herausforderungen? Werden Mitarbeiter gefördert eigene Entscheidungen zu treffen, oder warten Manager bis sie gebraucht werden? Was passiert bei Fehlentscheidungen? Wie kommt das in die Kommunikation? Mit welchen Auswirkungen?“
Aus: https://schlachte.wordpress.com/2016/11/21/agile-zusammenarbeit-mehr-augenhoehe-leider-lief-das-nicht-gut-in-meinen-projekten/
Viele Grüße
Christoph
die drei Punkte von Schreyögg finde ich sehr evident – Danke Christoph
Schöner knapper Titel, der diese generalisierte Einseitigkeit gut auf den Punkt bringt.
Wie immer kontrovers zur „Berater und Key-Note-Speaker Welt“, und daher aus meiner Sicht auch wichtig zu lesen. Die Organisations-Welt ist komplex und alles hat Aus- und Nebenwirkungen.
http://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/kuehl/pdf/Buechner_Kuehl_Muster-Working-Paper-6_2017-Der-Mythos-der-Digitalisierung.pdf
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