Statt kompliziert zu führen, lieber durch die Komplexität navigieren

1. von 11 Prinzipien für Führung bei Ungewissheit

Komplexität ist wie das Wetter: Sie ist da – und wir können nur lernen, uns auf sie einzustellen. Natürlich haben wir nach 14 Tagen Regenwetter große Lust, uns vor die Tür zu stellen und den Regen anzubrüllen, dass es jetzt genug sei und er aufhören solle, aber wir tun es nicht. Weil es nichts ändert!
Anders ist es in vielen Führungsetagen. Dort wird immer noch gegen den Regen angebrüllt, indem Führungskräfte versuchen, Komplexität zu reduzieren, Ungewissheit wegzuwischen und Uneindeutigkeit durch IT-Methoden wegzukalkulieren. Diese Führungskräfte, sei es in der Linie oder im Projekt, laufen immer wieder Gefahr, in die alten und mächtigen Management-Muster des „Machers und Umsetzers“ zurückzufallen, wenn ihnen der Ritt auf der Welle der Komplexität und Ungewissheit nicht auf Anhieb gelingt. Aus diesen Mustern kommt dann der Wunsch, „Komplexität zu reduzieren“, der Wunsch nach einem noch besseren IT-Tool oder einer Versicherungspolice für „falsche“ Managemententscheidungen.

Komplexitäts Falle

Kompliziert und komplex nicht verwechseln

Warum ist der Unterschied zwischen kompliziert und komplex so wichtig? Weil die Begriffe kompliziert und komplex aus zwei verschiedenen Welten stammen!

Den überwiegenden Teil unserer beruflichen Tätigkeit verstehen wir so, als sei alles, was wir tun, vom Gesetz der proportionalen Wirkung geprägt. Eine Welt der eindeutigen Mechanik des Sir Isaac Newton: Einer Ursache folgt eine genau definierte Wirkung. Gerade wenn wir uns in Bereichen bewegen, in denen wir bereits viel Erfahrung haben, generalisieren wir oft und meinen, die Wirkung einer Ursache ganz genau zu kennen – ein lineares Modell beherrscht unseren Kopf.

Solche linearen Prozesse haben den großen Vorteil, dass sie überschaubar und kalkulierbar sind, und deshalb sind sie die Arena, in der die Managementtechniker grandios aufspielen. Seit Frederick Winslow Taylor und Henry Ford wird mit allerlei Methoden und Tools wissenschaftliches Management betrieben und dadurch die Handlungsfähigkeit der Führungskraft garantiert.

Die komplizierten Themen sind die Domäne der Experten. Wer sich gut auskennt und die Methoden beherrscht, macht alles richtig und kann sich darauf verlassen, dass das passiert, was er vorher geplant hat. Unternehmen, die technische Systeme für ihre Wertschöpfung nutzen, haben es daher immer mit komplizierten Themen zu tun. Und so funktioniert auch die gängige Business Software und Steuerung nach Kennzahlen.

Alle komplizierten Themen sind durch Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gekennzeichnet, auch wenn sich diese nicht immer auf einen Blick erschließen. Sie sind mit Aufwand, hohem Einsatz und guter Ressourcenqualität „zu knacken“ und werden von wirksamen Führungskräften mit projektorientierten Methoden, professionellem IT-Einsatz, einer prozessorientierten Ablauforganisation, Stellenbeschreibungen und konsequenter Delegation gemanagt.

Im Gegensatz dazu sind nahezu alle sozialen Systeme komplex, d.h. durch Wechselwirkungen und nicht kausale Rückkopplungen gekennzeichnet. Unternehmen sind soziale Systeme, sie haben ständig Personen in ihre Arbeitsteilung zu integrieren und daher immer mit diesen Wechselwirkungen zu tun.

Je mehr Personal ein Unternehmen hat und je stärker diese Personen vernetzt sind, desto höher ist der Grad an Komplexität. In Unternehmen hat das Management damit immer mit Komplexität zu tun – auch wenn es das nicht immer wahrhaben will.

In einer solchen Umwelt zu führen, das bedeutet, dass Prozesse entstehen, die im hohen Maße von der Vernetzung mit anderen, ebenfalls komplexen Prozessen abhängig sind. Und nicht zuletzt beeinflussen sich diese komplexen Prozesse auch alle noch gegenseitig! Wie kann man da noch eindeutig richtige Entscheidungen treffen?

Gar nicht, denn alle komplexen Themen, die mit teilweiser Unvorhersagbarkeit, Rückkopplungen, „Chaos“ und nicht linearer Dynamik daherkommen, entziehen sich dem Richtig-Falsch-Denken aus der 2.0-Welt der newtonschen Gesetze.

Leider werden im Tagesgeschäft die zwei Welten der Kompliziertheit und der Komplexität immer wieder vermischt und verwechselt. Gerade wenn Ziele nicht direkt erreicht werden und Pläne nicht unmittelbar aufgehen, also Komplexität ihre „natürlichen Folgen“ zeigt, reagieren die Manager im Maschinenraum oft nach der tayloristischen Mechanik. Es wird noch genauer geplant und viel exakter kontrolliert: Aktivitäten und Arbeitsschritte werden jetzt in Risikomanagement-Templates eingegeben, es werden Critical-Chain-Aktionen definiert, Meilensteine bestimmt und exakte Termine zugeordnet. Heraus kommt am Ende ein Datenpaket, mit dem sich mühelos die Wände des gesamten Büros tapezieren lassen und dessen Vorhersagen dann trotzdem nur selten eintreffen. Das lineare Denken stößt hier eben grundsätzlich an seine Grenzen!

Eine wirksame Führungskraft, die den Unterschied zwischen kompliziert und komplex erkannt hat, wird daher:

  • alle Themen, die kompliziert sind, also mit viel Aufwand, hoher Ressourcenqualität und individuellem Einsatz „geknackt“ werden müssen, mit Expertenwissen, modernen Methoden und IT-Einsatz „managen“;
  • alle Themen, die komplex sind, also mit teilweiser Unvorhersagbarkeit, Rückkopplungen, „chaotischen Mechanismen“ und nicht linearer Dynamik versehen sind, „führen“, d.h. agil vorangehen, flexibel und mit Szenarien planen, um dann unentscheidbare Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen;
  • den Übergang zwischen komplizierten und komplexen Themen genau beobachten, um ihr Verhalten anpassen zu können.

Protoypen bauen und Experimente wagen,

statt Energie bei der Formulierung von Spezifika, Handbüchern, Pflichten- und Lastenheften zu vergeuden.

Jeder, der sich mit dem Thema (Produkt-)Entwicklung schon einmal beschäftigt hat, kennt den Grundsatz, dass frühes Lernen durch Ausprobieren in der Welt effektiver und kostengünstiger ist, als sich allein gedanklich mit detaillierten Spezifikationen, Lasten- und Pflichtenheften zu befassen. Alle agilen Konzepte und neuen Entwicklungskonzepte, nutzen deshalb das frühe Ausprobieren (Prototyping) als zentralen Punkt.

Die Grundidee des Prototyping ist es, möglichst früh ein Feedback über Konzepte und Ideen von den relevanten Stakeholdern zu bekommen. Diese schnelle Rückmeldung „aus dem Leben“ macht anschaulich und deutlich, welche Stärken und Schwächen das Konzept hat, und ermöglicht daher (grundlegende) Entscheidungen und Anpassungen in einem sehr frühen Stadium. Dies schont die Ressourcen und hält die Motivation hoch, weil „Arbeit für die Tonne“ unwahrscheinlich wird. Die Haltung im Protoyping ist eine des „Good Enough“, d.h., es kommt darauf an, die grundlegenden und typischen Merkmale einer Idee durch einen Prototypen zu testen und nicht zu warten, bis jede Seitenidee und Nebenabrede ausformuliert ist.

Die Autoren von „Management Y“ gehen davon aus, dass „für jedes Konzept, das älter als vier Stunden ist, die Zeit reif ist für einen wahren Test im Leben“ Und auch wenn es mit dem Prototypen ein wenig länger dauern sollte, gehen Sie auf jeden Fall in den ersten Tagen raus zu den Mitarbeitenden und Kollegen, potenziellen Nutzern, Kunden oder Lieferanten – und seien Sie gespannt auf das, was passiert. Denn Menschen sagen gern ihre Meinung zu etwas Neuem …

Unentscheidbare Entscheidungen treffen,

statt die einmal betonierten Entscheidungen zu rechtfertigen und zu verteidigen.

Die Zeit der Trendbrüche, Ungewissheit und digitalen Transformation erfordert ein neues Entscheidungsparadigma: Führen in einer VUCA-Welt heißt, die unentscheidbaren Entscheidungen zu treffen.

So lautet die scheinbare Paradoxie, die wir Heinz von Förster verdanken. Denn das Entscheidbare ist ja schon entschieden, bereits in Form von Prozessbeschreibungen, „messerscharfen“ Schnittstellenpapieren, Service Level Agreements, Spielregeln und Vereinbarungen festgelegt. Daher wendet sich eine Führungskraft, die unter Ungewissheit wirksam sein will, den Fragestellungen zu, die nicht bereits einer Regel unterliegen, denn Regeln abarbeiten können im Zweifel auch Automaten.
Das Auftreten unentscheidbarer Entscheidungen macht deutlich, dass eine Komplexitätsgrenze überschritten wird, ab der Verhalten und Fortgang eines Prozesses nicht mehr genau berechnet und geplant, sondern nur noch prognostiziert und in kleinen Iterationen gesteuert werden können. Es gibt keine Checklisten mehr, an denen man sich festhalten kann. Wer mit einer unentscheidbaren Entscheidung konfrontiert ist, kann letztlich nur auf Erfahrungen aus Szenarien, Prototypenbau und vergleichbaren Situationen zurückgreifen.

Dies geschieht am besten in heterogenen Teams, die unterscheiden, ohne zu trennen. Die Führungskraft in einer uneindeutigen Situation muss auf der Basis dieser Prognosen und des Abgleichs mit ihrer Risikoneigung Entscheidungen treffen. Dabei geht sie immer das Risiko ein, „falsch“ zu entscheiden. Denn welche Alternative die wirklich „richtige“ ist, kann sie bei einer unentscheidbaren Entscheidung nicht wissen.

Wer unter Ungewissheit wirksam führen will, wird die Komplexität erhöhen, um unentscheidbare Entscheidungen treffen zu können. Dafür nutzt sie die Kraft der Unterschiede und der Gruppendynamik, der Szenarien und des Protoyping. Denn sie weiß, dass komplexe Themen nicht mit der üblichen „Entweder-oder“ Managementmethodik à la Taylor, deren Expertise komplizierte Dinge sind, bearbeitet werden können.


Dieser Blogbeitrag ist Teil einer elfteiligen Serie in der die Aufforderung ergeht, Ihr bisheriges Repertoire zu erweitern und bewährtes Führungswerkzeug zu ergänzen. Denn in einer Welt der Mehrdeutigkeit kann es kein neues, einziges und überragendes Führungsparadigma mehr geben. Über diesen elf Aufforderungen, etwas dazuzulernen, „thront“ ein Prinzip, auf dem das „Segeln auf Sicht“ sich gründet: die Drei-I-Regel

Führung unter Ungewissheit ist
a) inkrementell: weil große Pläne schon veraltet sind, bevor sie erscheinen;
b) interaktiv: weil einsame Helden mit ihrem Latein im VUCA-Wetter am Ende sind;
c) iterativ: weil Komplexität nicht in einem Zug bewältigt werden kann.

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