8. von 11 Prinzipien für Führung bei Ungewissheit
Ist eine Organisation gut in funktionale Einheiten, eine zweckmäßige Hierarchie und überschneidungsfreie Stellenbeschreibungen strukturiert, ist das Ergebnis meist ein robustes und effizientes Unternehmen. Das gilt insbesondere dann, wenn die bekannten Managementprozesse der Strukturebene: Planung, Budgetierung, Controlling, Anreizsysteme, Stellenbeschreibungen und Karrierepfade sowie Kreativitätstechniken und Problemlöseprozesse greifen. Diese Unternehmen haben gelernt, Neuem durch Projektmanagement, Task Forces, Innovationsmanagement und persönliche Verantwortungsübernahme von Schlüsselspielern zu begegnen und die Produktivität der Organisation zu steigern. Der amerikanische Change-Management-Pionier John Kotter nennt dies das hierarchische Betriebssystem.
Bei Ungewissheit, konstanter Veränderung und der Ablösung von komplizierten durch komplexe Fragen, ist dieses Betriebssystem allerdings nicht mehr ausreichend leistungsfähig.
Schlimmer noch! Ganz wie der Gatte VII in Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame” immer„ fester nachdenkt“, um auf die Antwort zu kommen, reagieren diese hierarchischen Betriebssysteme häufig in einem Mehr desselben:
- Die Kommunikation schränkt sich immer mehr auf den Kreis der Kollegen im Fachbereich ein. Expertenzirkel bestimmen die Diskussion, und die einzelnen Einheiten schotten sich gegeneinander so ab, dass Bereichs- und Abteilungssilos entstehen.
- Prozesse, Regeln und deren Einhaltung werden heilig. Peu à peu übernehmen die Blockwarte des richtigen Prozessverhaltens (getarnt als sogenannte „Process Driver“) die Szene und achten darauf, dass das Chaos in der Welt draußen und hier drinnen die Ordnung erhalten bleibt.
- Das Verhalten der Einzelnen mutiert von offen, neugierig und ausprobierend hin zu einem „Hintern-an-die-Wand“-Typus. Die Kommunikation wird schriftlich, sich absichernd und im Ton wechselweise vorwurfsvoller oder sich rechtfertigend. E-Mails, die zehnmal weitergeleitet werden, ersetzen das klärende Telefonat; das Eskalieren und „Hochdelegieren“ werden zur betrieblichen Übung.
Planwirtschaft
Planung ist der Kern einer jeden Führungstätigkeit; eine solide Planung war gestern hilfreich und wird auch morgen sinnvoll sein. Was sich aber ändern muss, ist das Verständnis von Planung!
Tatsächlich geht es aber immer noch zu wie auf einem Rummelplatz in den fünfziger Jahren; dort gab es noch die sogenannten Wahrsager, die einem die Zukunft wiesen. Was damals ein Gag war, weil die Vorhersagen natürlich von keinem ernst genommen wurden, wird heutzutage von Führungskräften immer noch verlangt: eine Planung, die auch genauso eintrifft; Planwirtschaft eben.
Das traditionelle Modell der planwirtschaftlichen Unternehmenslenkung setzt auf einen vertikalen Prozess, in dem die Planungsergebnisse hierarchisch zusammengetragen und nach oben immer weiter verdichtet bzw. nach unten immer detaillierter werden. Wer in diesem Prozess gute Vorhersagen macht und seine Ziele erreicht bzw. übertrifft, erntet den Applaus des Publikums auf dem Rummelplatz; echte Planungshelden eben.
Nicht nach Plan laufende Projekte sind Legende. Millionenbeträge werden in den Sand gesetzt oder Regeln verletzt. Die Masse aber wird gar nicht bekannt. Meist sind die Schuldigen für solche „Pannen“ schnell gefunden. Nur, dass die Fehler im System liegen, sagt niemand. Schuld ist eine Kategorie, die hier aber gar nicht greift.
Es geht nicht darum, dass Einzelne etwas falsch gemacht haben, wo das objektiv Richtige doch zu erkennen war. Das Problem liegt tiefer, im mechanistischen Glaubenssatz „Geplant ist geplant“, d.h. dem grandiosen Irrtum, in einer komplexen Welt Pläne noch für die Realität zu halten.
Führung kann sich heute nicht mehr auf die Sicherheit von Ereignissen bzw. die Stabilität von Trends verlassen. Unerwartetes begegnet uns überall, seien es besondere Vorfälle oder auch nur die Veränderung eines Kundenwunsches im laufenden Tagesgeschäft.
Planungsaktionismus
Die typische Reaktion von Unternehmenslenkern mit hierarchischem Betriebssystem, nachdem sie von einem unerwarteten Ereignis „kalt“ erwischt wurden, ist ein Mehr desselben, d.h. erhöhter Planungsaktionismus (mehr Pläne, detailliertere Pläne, langfristige Pläne), um die bisher unsicheren Elemente besser zu kontrollieren. Dies führt zu den bekannten vier Schritten der sogenannten „strategischen Planung“, die sich dann alljährlich wiederholen:
- dem Versuch, die Zukunft vorherzusagen (zu planen);
- dem Versuch, diese Vorhersage durch Ziele und Zielvereinbarungen Wirklichkeit werden zu lassen
- und dem Versuch, das Erreichen dieser Ziele und Zielvereinbarungen zu kontrollieren, um dann
- die Erfüllung des Plans und die Zielerreichung zu belohnen oder zu sanktionieren.
Dieser Planungsaktionismus, der sich in Prozessen der mittelfristigen Planung, der Jahresplanung und der Quartalsvorschau zeigt, löst das zentrale Problem nicht: Die Zukunft ist ungewiss.
Die Praxis zeigt, dass sich Führungskräfte, die erfolgreich mit Ungewissheit umgehen, von bisherigen Planungsmethoden lösen.
flexible Planung
Die Zukunft liegt im flexiblen Agieren auf der Grundlage einer soliden Planung. Das ist kein Widerspruch, sondern gerade die Kunst der Führung unter Ungewissheit.
Pläne sind dazu da, Orientierung zu geben. Sie stecken den Korridor ab, in dem das Unternehmen in der nächsten Phase mit hoher Wahrscheinlichkeit tätig ist. Diese Pläne geben die notwendige Orientierung, um auch unter unsicheren Rahmenbedingungen handlungsfähig zu sein. Diese Pläne sind greifbar und beschreiben konkrete Handlungsabsichten. Sie sind aber nicht in allen ihren Einzelheiten heilig:
Dass es einen Plan gibt und dass für den Fall einer Planänderung ein verbindlicher Prozess existiert, wie diese Änderung berücksichtigt wird – das ist heilig, nicht die Planzahlen selbst.
In unsicheren Zeiten ist wichtig, dass es verbindliche Prozesse der Planung gibt, die Pläne selbst werden sich häufig ändern.
Eine flexible Planung ist notwendig, um eine Veränderung überhaupt zu beurteilen und nicht der Beliebigkeit anheimfallen zu lassen. Auch im schwersten Sturm wird ein Kapitän die Steuerung und den Betrieb seines Schiffes nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen, denn sonst droht Chaos und – wenn die Mannschaft emotional aufgeladen ist – vielleicht sogar Anarchie. Er wird sein Unternehmensschiff deshalb immer genau in der Mitte der Fahrrinne zwischen unverrückbaren Plänen und kontextloser Beliebigkeit halten.
Ein Beispiel aus einem Handelsunternehmen soll dies verdeutlichen. Der jährliche Planungsprozess dauert von September bis Januar. Die einzelnen Produktbereiche planen ihre Einkaufs- und Verkaufsvorhaben in drei Szenarien: maximaler Margenertrag, normaler Margenertrag und denkbar schlechtester Ertrag. So spannt sich ein Korridor der Erwartungen für das nächste Jahr auf.
Das Unternehmen hat sich ferner einen verbindlichen und klar beschriebenen Prozess der unterjährigen Planrevision gegeben. Sollten also neue Zahlen, Daten und Fakten auftreten, ist jedem Planungsverantwortlichen klar, wie diese Veränderung in den verabschiedeten Plankorridor eingearbeitet und als Planveränderung entschieden wird. Das Unternehmen hat so die strukturellen Voraussetzungen für Führung bei Unsicherheit geschaffen.
Damit sich dies im Verhalten der Führungskräfte widerspiegelt, ist auch der Prozess des Führens mit Zielen dem Umgang mit Ungeplantem verschrieben. Im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmen werden die individuellen Zielvereinbarungen nicht auf die konkreten Planzahlen des Korridors bezogen, sondern auf ein Prozessziel: die Einhaltung des Vorgehens zur unterjährigen Planrevision. So soll sichergestellt werden, dass Änderungen in allen Managementbereichen auch in den Korridor eingeplant werden. Das Unternehmen belohnt also nicht die Erreichung einer einmal geplanten Zahl, sondern das angemessene Reagieren seiner Mitarbeiter auf Unerwartetes, Ungeplantes und Neues.
Ein Fragebogen, den Sie auf meiner Website unter www.hinz-wirkt.de/navigationshilfen herunterladen können, hilft Ihnen dabei, sich selbst und Ihren Planungstyp einzuschätzen: Mit welchen „Planungstypen“ haben Sie es zu tun? Daraus können Sie dann für sich persönlich ableiten, wie leicht Ihnen oder Ihrem Team die flexible Planung fallen wird …
Dieser Blogbeitrag ist Teil einer elfteiligen Serie in der die Aufforderung ergeht, Ihr bisheriges Repertoire zu erweitern und bewährtes Führungswerkzeug zu ergänzen. Denn in einer Welt der Mehrdeutigkeit kann es kein neues, einziges und überragendes Führungsparadigma mehr geben. Über diesen elf Aufforderungen, etwas dazuzulernen, „thront“ ein Prinzip, auf dem das „Segeln auf Sicht“ sich gründet: die Drei-I-Regel
Führung unter Ungewissheit ist
a) inkrementell: weil große Pläne schon veraltet sind, bevor sie erscheinen;
b) interaktiv: weil einsame Helden mit ihrem Latein im VUCA-Wetter am Ende sind;
c) iterativ: weil Komplexität nicht in einem Zug bewältigt werden kann.