olaf hinz

Statt der Psyche, lieber die Struktur in den Fokus nehmen

3. von 11 Prinzipien für Führung bei Ungewissheit

Obstkorb, Kickertisch und der Bürohund. Was tut man nicht alles, um in diesen Zeiten Mitarbeitende zu halten bzw. zu rekrutieren.
Sie kümmern sich um die individuellen Wünsche, Sorgen und Nöte jeder einzelnen Person und deren „Psyche“ und bemühen sich um faire Vereinbarungen. Aber trotzdem bleibt die Produktivität und das Engagement auf einem ähnlichen Level, so richtig ändert sich nichts. Woran liegt das ?

Um Menschen auch in der komplexen Dynamik und Ungewissheit robust zu führen, verabschieden Sie sich bitte nicht nur vom Glauben an das „richtige“ Betriebssystem, sondern auch gleich von dem eindimensionalen personenfokussierten Denken, das die klassische Führungslehre immer noch beherrscht. Diese Führungslehre ist traditionell auf Methoden und Tools konzentriert, wie ich im Prinzip eins ja schon aufgezeigt habe. Dann kommt lange nichts, und wenn dann einmal der Mensch in den Blick genommen wird, wird er fast immer auf seine Psyche reduziert. Gute Menschenführung wird in diesem Modell mit psychologisch-pädagogischer Diagnosearbeit verbrämt, weil der Fokus auf die individuelle Beeinflussung von Mitarbeitern, genannt Motivation, verengt wird und die Handlungsmuster guter Führung küchenpsychologisch unterfüttert werden.

Nicht an der Psyche von Mitarbeitenden herumfummeln

Vergessen wir nicht: Die Menschen sind nur auf der Arbeit, d.h., sie verbinden mit der Tätigkeit in einer Organisation auch immer den Zweck des Broterwerbs. In ihrem Team sind sie meist mit Menschen zusammen, die sie sich nicht ausgesucht haben, sondern Führungskräfte und Personalreferenten haben diese Gruppe nach vornehmlich fachlichen Gründen zusammengestellt. Deshalb sind es ja auch meine Kollegen, mit denen ich einen Teamentwicklungsworkshop mache und nicht meine Freunde!

Wer erfolgreich auf Sicht segeln will, geht deshalb weg vom Psyche-Fokus hin zum systemischen Verständnis von Führung. Struktur kommt vor Psyche, lautet einer der Arbeitsgrundsätze dieser Führungslehre, welche die konkrete Arbeitsumgebung und nicht die psychische Disposition in den Vordergrund stellt.

Deshalb geht der Blick eines in Ungewissheit erfahrenen Kapitäns zunächst auf den Kontext – die Organisation und die Struktur –, in dem er das Schiff segeln will. Denn er weiß: Mitarbeiter eines Unternehmens, die klug und nicht naiv sind, richten ihr Verhalten natürlich an den Richtlinien und Gepflogenheiten in diesem Unternehmen aus; seien sie nun formell oder nur informell bekannt. Sie erkundigen sich, wie die Usancen sind, wen man besser nicht fragt und wo man die Berechtigungen für die PC-Laufwerke erhält.
Typische Beispiele formeller Strukturen sind Kompetenzregelungen, Prozessbeschreibungen/ Organisationshandbücher, Organigramme, aber auch Grundsätze der Zusammenarbeit und Führung oder die in Besprechungsräumen ausgehängten Unternehmenswerte. Diese Strukturen im Unternehmen sind es, die den Rahmen bilden, in dem die Führungskraft dann handeln kann und soll. Daher muss wirksame Führung dies zunächst ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen. Daher führt auch die Idee einer „authentischen Führung“ in den Wald, wie ich in später in Prinzip sieben noch ausführlich zeigen werde.
Ein alleiniger Blick auf die Person und ihr Verhalten, das „abgekoppelt“ von der Unternehmung passiert, erfüllt die Erwartungen an professionelle Führung bei Ungewissheit nicht!

Unternehmen als System begreifen

Menschen sind offensichtlich bereit, in anständigen Unternehmen/Organisationen zu arbeiten, und verzichten dabei freiwillig auf Handlungsoptionen, die sie individuell weiter ausüben könnten. Sie verzichten also auf individuelle Freiheit und sind bereit zur Kooperation, d.h., sie nehmen den Einfluss anderer auf ihre Handlungen in Kauf, weil sie sich dadurch neue Möglichkeiten versprechen.

Denn erfolgreiche Organisationen sind faszinierende Systeme der Emergenz, d.h., sie erreichen durch das Zusammenführen vieler Einzelteile etwas Neues, das mehr als die bloße Summe dieser Einzelteile ist. Dieses Phänomen der Emergenz ist einer der wichtigsten Gründe für das Auftreten und Fortbestehen von Unternehmen/Organisationen.Personen stellen ihre Arbeitsleistung der Organisation zur Verfügung, weil sie an deren höherer, emergenter Wertschöpfung beteiligt sein wollen. Sie erwarten eine Entlohnung, die sie gegen Güter und Dienste tauschen, welche ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen

Arbeit in einer Organisation wird in Arbeitsteilung organisiert. Das Auftreten von Arbeitsteilung führt zum Phänomen, dass für die Organisation die Person zum Personal wird. Die Organisation nutzt und entlohnt nur bestimmte Fähigkeiten der mitarbeitenden Personen. Die Menschen werden dann zu Personal, d.h. zum Mitarbeiter, wenn sie in die Organisation eintreten, um ihre zugewiesene Aufgabe zu erfüllen.

Der Mensch als Ganzes ist der Organisation letztendlich gleich und als Individuum auch ersetzbar. Die beteiligten Mitarbeiter lassen sich auf diesen „Deal“, u.a. unter der Nebenbedingung einer „angemessenen Entlohnung“, ein.

Für die Organisation ist es ökonomisch sinnvoll, dass sie sich unabhängig von Personen macht. Sie sind bereits „abhängig“ vom Personal und den benötigten Fähigkeiten, daher muss der/die Einzelne zumindest austauschbar bleiben. Nur so erhält sich die Organisation die notwendige Freiheit und Flexibilität zur Anpassung an neue Ziele/Visionen. Moderne Führungskräfte arbeiten vor allem am System – und eben nicht nur im System.

Denn es geht darum, das Unternehmen erfolgreich zu führen, und dafür braucht die Führungskraft nicht jeden einzelnen Mitarbeiter psychologisch kennenzulernen. Sie führt das Personal, nicht Personen. Sie muss allerdings sehr genau verstehen, wie das Spiel Personalführung läuft, d.h. nach welchen Regeln Personen bereit sind, freiwillig auf individuelle Handlungsoptionen zu verzichten, um in Arbeitsteilung den Emergenzgewinn „einzustreichen“. Deshalb sucht eine wirksame Führungskraft bei Schwierigkeiten zunächst auch nicht nach einem Schuldigen, d.h. einer Person, die durch individuelles, „falsches“ Verhalten etwas auslöst, das repariert werden muss. Sondern sie fragt, ob die Prinzipien der Unternehmung tatsächlich so gelebt werden und die Strukturen so sind, dass Emergenzgewinne überhaupt eintreten können.

…und darum ist „burn out“ eben kein privates Thema

Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass „Burn-out“-Prävention eine Frage des zu korrigierenden persönlichen Verhaltens am Arbeitsplatz ist und Personen daher auf mehr Gesundheit und Resilienz trainiert werden müssen. Burn-out-Prävention ist in erster Linie eine Frage an die Struktur in der Organisation/im Unternehmen. „Struktur kommt vor Psyche“ bedeutet hier, dass Führungskräfte im Unternehmen

  • zunächst schauen sollten, ob die Anforderungen an die beruflichen Rollen stimmig und realistisch sind, statt kostenlose Check-ups in der Uniklinik anzubieten;
  • in Erfahrung bringen sollten, ob die Ressourcenausstattung zur Aufgabe passt, statt Erholungsinseln und Inhouse-Massagetermine einzurichten;
  • ihr Augenmerk darauf richten sollten, ob und wie das Personal geführt wird, bevor Coaching und Teamentwicklung beauftragt werden;
  • zuerst Energie in eine wirksame Organisations- und Kulturentwicklung stecken sollten, statt am Symptom orientierte Schulungen à la „Wie baue ich meinen beruflichen Stress ab“ anzubieten.

Es ist unverantwortlich, wenn das wichtige Thema „Burn-out“ allein auf einer individualpsychologischen Ebene „abgehandelt“ und mit pädagogischen Tools wie „Resilienztraining“ outgesourct wird. So werden Themen, die vor allem die Organisation auslöst und verantwortet, an die einzelnen Personen „wegdelegiert“, und es wird nicht auf die Suche gegangen, ob das Unternehmen selbst erschöpft oder ausgebrannt ist.

Dabei gibt es für mich keinen Zweifel: „Burn-out“ existiert und Personen leiden darunter. Jedem Einzelnen, der/die von der Erkrankung „Burn-out“ betroffen ist, muss durch professionelle Begleitung geholfen werden.
Wenn aber zur gleichen Zeit nicht auch auf die Organisation, die Struktur, die Strategie, die Führung, die Anreize, die Ressourcenausstattung etc. geschaut wird, ist das schlechte Unternehmensführung!


Dieser Blogbeitrag ist Teil einer elfteiligen Serie in der die Aufforderung ergeht, Ihr bisheriges Repertoire zu erweitern und bewährtes Führungswerkzeug zu ergänzen. Denn in einer Welt der Mehrdeutigkeit kann es kein neues, einziges und überragendes Führungsparadigma mehr geben. Über diesen elf Aufforderungen, etwas dazuzulernen, „thront“ ein Prinzip, auf dem das „Segeln auf Sicht“ sich gründet: die Drei-I-Regel

Führung unter Ungewissheit ist
a) inkrementell: weil große Pläne schon veraltet sind, bevor sie erscheinen;
b) interaktiv: weil einsame Helden mit ihrem Latein im VUCA-Wetter am Ende sind;
c) iterativ: weil Komplexität nicht in einem Zug bewältigt werden kann.

1 Kommentar zu „Statt der Psyche, lieber die Struktur in den Fokus nehmen“

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